"Haus am Dom", Frankfurt 24.12.2012
„Eine außerordentliche Intensität des szenisch-rezitierenden Spiels von Christian Wirmer erlebe ich eben, am 27. Februar 2015, in der Höhe auch der Denkhorizonte von Georg Büchners Prosafragment "Lenz". Büchners Lenz-Figur ringt mit allen Kräften der Wahrnehmung, der Sinne und des Geistes um einen neuen Grund in der Welt im Abgrund einstürzender Gewissheiten um das Jahr 1835, in der Gottrede und Gottesbeziehung und deren Verlust, im Naturverstehen, in Psychologie, Philosophie, Sprache und Geist bis hinab in die Facetten einer offenen Person, deren tagweise, ja stundenweise Wechselfälle von Stimmungen, von Standsuche und Wahn, vom Mitleiden am Leiden der Kreatur, vom Aufblitzen der Freude an Schönheiten, vom Hinausgleiten zum Ende hin aus jeglichem Horizont in eine dumpfe Leere einer einwattierten Alltäglichkeit, unsere Zeit, heute 2015, bis in die Nachtseiten dessen, was als vermeintlich "normal" sich gibt, spiegelt.
Christian Wirmer hört Büchner mit solcher Genauigkeit zu, dass die Lenzfigur plastisch sich bewegt, ohne überidentifiziert zu werden. Die Figur wird häutig und heutig, der Text spricht ohne zeitgeschichtliche Patina, Erschütterungen werden fühlbar gerade durch genaue Diskretion ohne falsches Pathos für nur eine Seite der Figur, etwa das Hinausgleiten in den leeren Wahn am Ende.
Als Theologe vernehme ich, wie leise eine annehmbare Gottsuche und deren Rede heute sich sagen müsste, wie wenig legitimiert zum großen Ton, wie nahe zumindest an der empathischen Figur des Lenz-Gefährten Oberlin, der mit Lenz geht, so weit er kann - und dem, in allem Ringen, diese, vielleicht seelsorgliche, auch ohnmächtige, mit gehende Liebe mehr ist als das Beharren auf Sätzen des Glaubens, die alle infrage stehen - und doch als brennende Fragen, ohne wasserdichte Antworten, bis heute so sich aufs Herz legen, bis, vielleicht, "die göttlich-leidenden Züge" (Zitat Büchner) deutlicher reden - und wo gäbe es eine Deutung der Szene der Emmaus-Jünger aus dem 24. Kapitel des Lukasevangeliums in solcher dunkel leuchtend schönen Verdichtung wie in Büchners Lenz - und wie bringt Christian Wirmer das alles zusammen, diese solidarische Differenzierung mit den kleinsten Nuancen der Figuren, zugleich im durchdringenden Blick der Zusammenschau Büchners, so dass es mir die Seele aufzieht, das Herz wundet und doch auch, und gerade darin, in allem messerscharf aufklärt zu ungedecktem Denken."
Markus Roentgen